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Am Samstag feierte der Wikileaks-Gründer seinen 50. Geburtstag. In Berlin wollen sich Assanges Unterstützer nicht mit seinem Schicksal abfinden.

Am Samstag feierte Julian Assange seinen 50. Geburtstag. Doch es gab keinen Sekt und keine Party. Assange sitzt im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh bei London. Erst vor wenigen Tagen konnte er für kurze Zeit erstmals seine Familie, seine Kinder sehen. Seit elf Jahren lebt der Wikileaks-Gründer nicht mehr in Freiheit. Aktuell wartet der Australier auf die Entscheidung, ob er von Großbritannien an die USA ausgeliefert wird. Im Januar entschied das britische Gericht zunächst, dass er nicht in die USA überstellt werde. Der Grund war allerdings nicht, dass die britischen Richter ein Verdikt für die Pressefreiheit ausgesprochen hatten. Lediglich seine schlechte Gesundheit bewahrte Assange vor der Verlagerung in eines der berüchtigten US-Gefängnisse. Die US-Regierung hat Berufung gegen das Londoner Urteil eingelegt. Die Isolation zerstöre Assange langsam, wie Unterstützer wie der UN-Folterbeauftragte Nils Melzer und andere Freunde Assanges berichten. Der Aufdecker von US-Kriegsverbrechen verrottet im Knast.

Diese Woche ist der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gestorben. Die internationale Presse schickte Rumsfeld respektvolle Nachrufe hinterher. Gelegentlich gab es kritische Nuancen. Doch im Gefängnis sitzt nicht der, der die Kriegsverbrechen zu verantworten, sondern derjenige, der sie aufgedeckt hat.

Diesen Zustand empfinden viele Aktivisten in der ganzen Welt als ungerecht. Auch in Berlin versammelten sich am Samstag einige hundert Demonstranten und forderten am Pariser Platz vor der US-Botschaft die Freilassung von Assange. Die „Reporter ohne Grenzen“ unterstützten, die „Omas gegen Rechts“ waren ebenso vertreten wie Anhänger des neuen europäischen Linksbündnisses „Diem 25“, zu dessen Gründern unter anderem der frühere griechische Finanzminister Yannis Varoufakis zählt.

Die Mahnwache vor der US-Botschaft gibt es seit vielen Jahren. Aktivisten aus allen Bereichen der Gesellschaft demonstrieren bei Wind und Wetter für die Freilassung von Assange. Am Samstag seien viel mehr Leute gekommen als sonst, sagt eine der Organisatorinnen. Dies liege nicht nur am schönen Wetter, sondern auch an einem verstärkten öffentlichen Bewusstsein dafür, was auf dem Spiel steht.

Die Berliner Unterstützer Assanges glauben, dass der Fall Assange auch symbolische Bedeutung habe. „Anna“, eine Betriebswirtin, sagt: „Ich bin immer davon ausgegangen, dass, wenn ich nichts Unrechtes tue, mir auch nichts passiert. Es ist erschreckend, dass dies bei Assange nicht der Fall ist.“ Wenn die Kontrolle durch die Medien entfalle, könnten Regierungen tun, was sie wollen, sagt Anna: „Ich muss mich dann immer fragen: Haben wir eine Regierung, die es gut mit uns meint, oder hat sie schräge Ansichten – und wir können uns nicht mehr wehren?“ Anna fürchtet, dass das Wegesperren von Assange es Regierungen künftiger leichter machen könnte, „Dinge zu tun, wo sie keine Öffentlichkeit haben wollen“.

Ein anderer Unterstützer ist „Robert“: Er ist Softwareentwickler und aus Polen in den 1980er-Jahren nach Berlin gekommen, in „der finsteren Jaruzelski-Zeit“, wie er sich erinnert: „Ich bin damals in den Westen gegangen, weil ich dachte, dass es hier anders ist. Im Lauf der Jahre ist eine Desillusionierung eingetreten. Ich stelle fest: Die Mechanismen sind dieselben.“ Wikileaks sei eine Initiative für mehr Transparenz gewesen. Dies sei nötig, und es reiche ihm nicht, wie viele andere Software-Kollegen einfach nur stille Sympathie für Assange zu hegen: „Wir müssen etwas tun, wenn wir unsere Demokratie verteidigen wollen.“

Das sieht auch Coral Franz so, eine Kunststudentin an der UdK. Sie kam aus Bolivien über die Schweiz nach Berlin. Sie sagt: „Für mich stellt sich die Frage: In welche Zeit bewegt sich meine Generation?“ Franz verweist auf die enormen Veränderungen der Informationsprozesse durch die Digitalisierung. Wikileaks sei das Gegenteil von Facebook: Die Assange-Plattform hat die Mächtigen kontrolliert, Facebook sammelt die Daten der ahnungslosen Nutzer. Es gehe um eine Balance in den Informationswegen: „Es kann nicht sein, dass sie alles über uns wissen, wir aber nichts über sie wissen sollen“, sagt Franz über das Ungleichgewicht zwischen Nutzern, Regierungen und Technologie-Konzernen. Assange sei für sie weder Staatsfeind noch Held: „Er hat nichts Unrechtes getan, und kritischer Journalismus sollte keine Heldentat, sondern die Normalität sein.“ Durch die Digitalisierung drohe eine „Entgrenzung der informationellen Selbstbestimmung“. Deshalb sei es wichtig, Assange zu unterstützen – weil er mit Wikileaks genau das richtige Gegengewicht zu den Regierenden geschaffen habe, um diese zu kontrollieren.

Almut, Grundschullehrerin in Rente, sieht den Mangel der Transparenz als ein systemisches Problem und verweist auf die geheimen Verhandlungen zu den Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Sie sagt: „Es ist wichtig, dass wir der Politik mit unserem Protest signalisieren, dass wir uns gegen diese Entwicklung wehren wollen.“ Sie hat Assange immer wieder Briefe geschrieben, und einmal kam sogar eine kurze Antwort: „Da wusste ich wenigstens, dass die Briefe zu ihm durchgekommen sind.“

Allerdings erschreckt sie dieser Gedanke, genauso wie Thilo Haase, ein Schriftsetzer, ein Ostler, der sich gegen die „Schere im Kopf“ wehren will. Er war schon in den Vorwende-Zeiten bei Demos unter dem Dach der Kirche gegen die SED-Führung dabei. Er wisse, wovon er rede, sagt er: „Wir brauchen eine freie Presse, damit wir freie Bürger sein können und nicht Untertanen werden.“ Haase sagt, er sei verwundert, wie sich in den vergangenen Jahren der Meinungskorridor immer mehr verengt habe: „Ich kenne das aus der DDR: Da gab es eine öffentliche und eine private Meinung. Ich hätte nicht gedacht, dass wir im Westen wieder dorthin kommen werden.“

Heute liege die Macht nicht mehr bei der Politik, sondern bei Konzernen und internationalen Unternehmen. Daher glaubt Haase, dass die Unterstützung der Berlinerinnen und Berliner vor der Mahnwache für Julian Assange auch bei staatlichen Mitarbeitern durchaus mit Sympathie gesehen werde. Zwar habe man aus der US-Botschaft noch nie ein Lebenszeichen erhalten. Doch habe man vor der britischen Botschaft, die um die Ecke liegt, immer wieder Menschen getroffen, die den Protestierenden aufmunternd zugenickt hätten. Einige hätten sogar verstohlen den Daumen in die Höhe gereckt. Thilo Haase: „Da wussten wir: Die haben nicht die totale Kontrolle – wenn sie nicht einmal ihre eigenen Leute in der Botschaft überzeugen können.“

„Julian Assange wird seit Jahren ohne Anklage seiner Freiheit beraubt. Das ist eine Schande für den Westen“, sagt Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Links-Partei und Hauptrednerin bei der Veranstaltung am Pariser Platz. Dagdelen will Assange helfen und wünscht ihm zum Geburtstag, „dass er die nötige Gesundheit hat und die Kraft durchzuhalten, bis ihn die internationale Solidaritätsbewegung aus dem Gefängnis befreit“. Dagdelen sagt, Assange sei „ein Dissident“, und der Westen müsse ihm genau jene Menschenrechte gewähren, die „wir bei autoritären Regimen zu Recht anmahnen“.

Dagdelen führt gemeinsam mit einer Parlamentariergruppe, in der sich Vertreter mehrerer Parteien für Assange engagieren, seit Monaten im Hintergrund Gespräche, wie Assange geholfen werden könne. Die Chancen stehen gar nicht so schlecht, es ist offenbar Bewegung in die Sache gekommen. Erst vor einigen Tagen hat der Kronzeuge der US-Anklage, ein Mann aus Island, eingeräumt, dass er für seine Aussage gegen Assange gelogen habe. Er widerrief seine Anschuldigungen in der isländischen Zeitung Stundin.

Edward Snowden sagte in Moskau, damit habe die Anklage der US-Regierung ihre Grundlage verloren. Die internationalen Medien berichteten kaum von dieser sensationellen Wende. Eine der Ausnahmen: der alternative US-Sender Democracy Now. Immerhin: In Assanges Wikipedia-Eintrag ist die neue Entwicklung schon vermerkt. Auch in den politischen Kreisen in Washington wurde der Widerruf wahrgenommen. Doch selbst bei den liberalen Politikern ist die Bereitschaft, sich für Assange zu engagieren, gering.

So soll Bernie Sanders abgewunken haben, als er um Hilfe gebeten wurde. Die Sache sei ihm zu heiß gewesen, sagen mit den Gesprächen vertraute Personen der Berliner Zeitung. Assange ist daher auf Vermittler von außen angewiesen. Die größten Hoffnungen in Deutschland ruhen auf der Bundeskanzlerin. Ein Parlamentarier sagt: „Wenn jemand etwas bewegen kann, dann ist es Angela Merkel.“ Er will namentlich nicht genannt werden, um die Bemühungen hinter den Kulissen nicht zu gefährden. Die Abgeordneten hoffen, dass Merkel vielleicht von der Überlegung geleitet sein könnte, ihre Amtszeit mit einer humanitären Geste zu beenden. Assange könnte dann in die Schweiz oder nach Deutschland reisen, um sich vor allem gesundheitlich zu erholen.

Doch zuerst müssten die US-Behörden das Auslieferungsbegehren fallen lassen. Sonst bliebe Assange ein Gejagter, gleichgültig in welchem Land er Zuflucht findet. Entscheidend sei, dass die Amerikaner ihre Entscheidung gesichtswahrend treffen können müssen. Der Widerruf der Aussage durch den Kronzeugen könnte ihnen eine Brücke bauen.

Sevim Dagdelen ist der Auffassung, dass es bei Assange zwar zunächst vor allem um die humanitäre Geste gehe. Doch habe die Freilassung des Verlegers und Journalisten eine weit über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung: „Sein Schicksal geht uns alle an. Wir müssen die Pressefreiheit verteidigen, wenn wir unsere Demokratie erhalten wollen.“

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